Ausgabe Februar 2023

Kosovo und Serbien: Vor der nächsten Eskalation?

Aleksandar Vučić, Präsident Serbiens, in Prag, 6.10.2022 (IMAGO / ZUMA Wire / Tomas Tkacik)

Bild: Aleksandar Vučić, Präsident Serbiens, in Prag, 6.10.2022 (IMAGO / ZUMA Wire / Tomas Tkacik)

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić ist bekannt für seine ständige mediale Präsenz. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht vor den Fernsehkameras steht, wohlgemerkt in der Regel vor jenen der ihm politisch nahestehenden Privatsender. Direkte Debatten mit Oppositionspolitikern und Kritikern vermeidet er seit Jahren, dafür rechnet er mit ihnen über „seine“ Medien ab. Wenn Vučić nicht vor Kameras steht, lässt er seine Botschaften über sein Lieblingsmedium verbreiten – über Instagram. Anfang Januar ließ er dort mit einem Post aufhorchen, bebildert mit einem Wolf und versehen mit dem Spruch „Wolves don’t lose sleep over the sheep’s opinion“. Gegen welchen Gegner der einsame Wolf, als der sich Vučić offensichtlich sieht, kämpft, ist unschwer auszumachen. Seit dem vergangenen Sommer eskaliert die Situation zwischen Serbien und dem Kosovo zunehmend, zugleich wächst der Druck des Westens auf Belgrad wegen dessen Russlandpolitik. Daher sind der Westen und vor allem Deutschland nun zur Zielscheibe der Vučić-Rhetorik geworden.

Bösewicht Nummer 1 in den serbischen Boulevardmedien ist hingegen Vučićs Gegenspieler, der kosovarische Premierminister Albin Kurti. Auf den Titelseiten der Boulevardblätter wird er tagtäglich dämonisiert und wüst beschimpft. Vučić selbst bezeichnete ihn unlängst als „terroristischen Abschaum“. Das Verhältnis zwischen den beiden Spitzenpolitikern ist von tiefstem Misstrauen geprägt. Für Albin Kurti, der zwischen April 1999 und Dezember 2001 in serbischen Gefängnissen interniert war, ist Vučić ein aggressiver Nationalist und Autokrat, der Serbien in eine russische Provinz verwandelt hat, die weiterhin großserbische Ansprüche in der gesamten Region des Westbalkans stellt. An diesem durchaus persönlichen Konflikt zwischen den Hauptprotagonisten der jüngsten Krisen im Kosovo, Aleksandar Vučić und Albin Kurti, lässt sich bereits erahnen, wie komplex, emotional und konfliktgeladen das Verhältnis zwischen dem Kosovo und Serbien ist.

Lange Zeit plätscherten die Beziehungen beider Länder dahin. Nach dem erzielten Durchbruch in Brüssel im Jahr 2013, der zu einem Abkommen zwischen Pristina und Belgrad führte, machten beide Seiten anfänglich in einigen technischen Bereichen Fortschritte, um dann lange Zeit keine sonderliche Lust am Verhandeln an den Tag zu legen. Der Beginn der russischen Aggression in der Ukraine läutete dann global eine neue Zeitrechnung ein, die recht bald auch auf dem Westbalkan zu spüren war.

Als im Sommer 2022 die Regierung in Pristina neue Maßnahmen zur Regelung der Autokennzeichen und des Personenverkehrs zwischen Serbien und dem Kosovo umsetzen wollte, eskalierte die Situation schnell. Nach der Verhaftung eines serbischen Polizisten durch die kosovarische Polizei Anfang Dezember errichteten Serben im Norden des Kosovo Straßenblockaden. Immer wieder gab es Schüsse und gefährliche Szenen, die die Angst vor einem neuen Krieg verstärkten. Die Situation beruhigte sich erst kurz vor dem Jahreswechsel, als die Blockaden wieder zurückgebaut wurden. Doch bleibt die Lage extrem angespannt, das Kriegsgeschrei in den serbischen Boulevardmedien setzt sich unvermindert fort, auch die Kosovo-Albaner halten am Narrativ des prorussischen, kriegstreibenden Serbien fest. So wie die lokalen Karten klar verteilt zu sein scheinen, sind es auch die geopolitischen.

Serbien zwischen Russland und der EU

Russland hat sich seit Beginn der neuen Spannungen im Kosovo unmissverständlich auf die Seite Serbiens gestellt. Russische Medien bedienten in den Wochen und Monaten seit der jüngsten Eskalation unisono das Narrativ des „bedrohten Brudervolkes der Serben“ und des bösen Westens, der nun auch auf dem Balkan Russland provoziere und russische Interessen bedrohe. Putins Bluthund Ramzan Kadyrow ließ mit der Botschaft aufhorchen, dass er die Entwicklungen im Kosovo aufmerksam verfolge. Der russische Botschafter in Serbien, Aleksandar Bocan-Harcenko, beteiligte sich Mitte August 2022 an Spekulationen über die Eröffnung russischer Militärbasen in Serbien, die von einigen russischen Medien lanciert worden waren. Passend dazu verkündete die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, dass man Serbien unterstütze und über einen eigenen Plan für den Kosovo verfüge.

Angesichts dessen fragen sich viele westliche Politiker seit Beginn des Ukrainekrieges, ob Aleksandar Vučić tatsächlich ein pragmatischer Politiker ist, der bereit wäre, sich stärker von Russland abzukoppeln und sich der EU und dem Westen zuzuwenden. Vučić soll im direkten Gespräch mit westlichen Diplomaten stets beteuern, dass er sich sehr gerne von Russland unabhängiger machen würde, dass ihm das aber wegen der stark prorussischen Öffentlichkeit und dem Druck von rechten Gruppierungen im Land nicht so schnell möglich sei. Vučić soll immer nach mehr Zeit fragen. Zugleich aber sind die starken prorussischen Haltungen und auch das Erstarken der extremen Rechten in Serbien nicht vom heiteren Himmel gefallen. Sie sind das Ergebnis der Politik von Vučić und seines Schaukelkurses zwischen Russland, China und dem Westen – seines ständigen Navigierens zwischen dem europäischen Weg und den alten, tief verwurzelten nationalistischen Narrativen. Die antiwestlichen, prorussischen und extrem rechten Geister, die er gerufen hat, wird Vučić nicht los, auch wenn er dies wollen würde.

Schon vor der jüngsten Eskalation sprachen Meinungsumfragen eine deutliche Sprache und verwiesen auf das Grunddilemma der serbischen Politik und Gesellschaft, das nun auch zum zentralen Dilemma für Vučić geworden ist: Die serbische Öffentlichkeit ist stark prorussisch gestimmt und zeigt eine zunehmende Skepsis in Bezug auf den Westen und die EU. Auf die Frage nach den wichtigsten außenpolitischen Partnern nennen 40 Prozent Russland an erster Stelle, gefolgt von der EU mit 30 Prozent und China mit 24 Prozent. 80 Prozent der Serben sind gegen Sanktionen für Russland – die Belgrad auch nicht mitträgt. Noch ernüchternder ist, dass 43 Prozent der Serben ihrer Regierung raten würden, den Beitritt zur EU abzulehnen, nur 30 Prozent wünschen sich den Beitritt.[1]

Das zeigt das grundsätzliche Dilemma, vor dem Belgrad steht: Die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft ist zu schwach und hat daher an Bedeutung verloren, zugleich bleibt die Unterstützung für Russland in der Bevölkerung dominant. Jedoch sind die EU und der Westen die zentralen Wirtschaftspartner, Russland fällt seit Beginn des Ukrainekrieges massiv ab. Zugleich ist klar, dass Russland im Falle einer weiteren Eskalation rund um den Kosovo Serbien nicht zu Hilfe eilen kann und dass eine direkte Konfrontation Serbiens mit der Nato, deren Soldaten im Kosovo stationiert sind, für Vučić einem politischen Selbstmord gleichkäme.

Gerade diese verfahrene Lage könnte Vučić aber nun veranlassen, einen Kompromiss in der Kosovo-Frage zu suchen. Mitte Januar tauchte ein Video der Wagner-Gruppe auf, in dem zwei serbische Freiwillige zu sehen sind, die sich der Söldnergruppe angeschlossen haben und nun für den Kampf in der Ukraine ausgebildet werden. Mit dem Video sollten wohl weitere Freiwillige in Serbien rekrutiert werden. Das ist in Serbien jedoch verboten. In einer ersten Reaktion auf das Video zeigte sich Vučić dementsprechend verärgert und fragte sinngemäß, warum die Wagner-Gruppe und Russland dies Serbien antäten. Kürzlich merkte er in einem Interview für „Bloomberg“ an, dass er seit Monaten nicht mehr mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gesprochen habe und hielt fest: „Für uns ist die Krim Ukraine, Donbass ist Ukraine und das wird so bleiben.“[2] Deutet er damit eine mögliche Wende in der serbischen Politik gegenüber Russland an?

Antwort aus Pristina

Wie fällt angesichts dessen die Antwort aus Pristina aus? Albin Kurti weicht von seinem Narrativ der engen Allianz zwischen Moskau und Belgrad nicht ab und bezeichnet Serbien als russische „Gubernjia“, also eine russische Provinz. Kurti spricht von einer „vorgetäuschten Neutralität“ Serbiens, die der Westen nicht durchschaue und sich blenden lasse. Denn Serbien spiele „die Rolle Russlands auf dem Balkan“ und der Norden des Kosovo gleiche dabei aus der russischen und serbischen Perspektive der von der Republik Moldau abgespaltenen Region Transnistrien, die man sich einverleiben möchte. Und Kurti setzt noch eins drauf: „Ich sage nicht, dass Serbien jetzt bereits wie Russland ist, aber es gibt die Absicht. Und diese Absicht ist kriminell.“[3] Der kosovarische Premierminister verweist auch sehr gerne darauf, dass Serbien keine demokratische Gesellschaft sei, sondern in den letzten Jahren zunehmend autokratischer geworden ist. Der Kosovo und seine Demokratie sollen demgegenüber als Kontrast dienen.

In der Tat, der Kosovo ist im Jahr 2023 ein pluraleres und demokratischeres Land als Serbien, mit freien Medien und einer lebendigen politischen und zivilgesellschaftlichen Szene. Bei einer direkten Bedrohung durch den „alten Feind“ Serbien schließen sich die Reihen der albanischen Kosovaren und man steht grundsätzlich hinter der Regierung und Albin Kurti. Die Kosovo-Albaner sind in der Frage der kosovarischen Souveränität und der territorialen Integrität, für die sie sehr hart gekämpft haben, zu keinen Kompromissen bereit. Kurti weiß das und schafft es sehr gut, die Mehrheit der Kosovo-Albaner mit einer durchaus auch populistischen Rhetorik – basierend auf der binären Entgegensetzung „Albaner sind gut und Serbien bzw. Vučić böse“ – hinter sich zu scharen.

Weniger geschlossen zeigen sich die Kosovo-Albaner in der Frage, zu welcher konkreten Taktik und Strategie Kurti greifen sollte, um die verfahrene Situation mit dem großen Nachbarland zu lösen. Denn Kurti hat mit seiner Weigerung, einen Gemeindeverband für die serbische Minderheit im Kosovo zu bilden, der im EU-vermittelten Abkommen zwischen Serbien und dem Kosovo im Jahr 2013 vorgesehen war, den Zorn des wichtigsten westlichen Verbündeten seines Land eingehandelt: den USA. Einen klaren Gegenvorschlag für eine Form der zumindest kulturellen Autonomie für die Serben im Kosovo hat Kurti bislang nicht vorgelegt. Generell steht der Vorwurf im Raum, Kurti gehe zu wenig proaktiv auf die serbische Community im Kosovo ein, um bei ihnen Vertrauen zu bilden.

Die realpolitische Quadratur des Kreises

Angesichts der extrem verhärteten Fronten zwischen Pristina und Belgrad stellt sich die Frage, wie ein Ausweg aus der Konfliktspirale aussehen könnte. Seit dem Sommer 2022 liegt dazu der sogenannte deutsch-französische Vorschlag auf dem Tisch. Dieser geht auf eine schon ältere Idee von Wolfgang Ischinger aus dem Jahr 2007 zurück. Der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz schlug damals nach dem Vorbild des deutsch-deutschen Grundlagenvertrags von 1972 eine Neugestaltung der Beziehungen zwischen dem Kosovo und Serbien vor. Beiden Staaten müssen sich laut diesem Vorschlag zwar nicht anerkennen, sollen sich aber auch nicht in ihrer Entwicklung behindern. Auf dieser Grundlage, so die Hoffnung, könnte man viele praktische Probleme zwischen Serbien und dem Kosovo regeln – und zugleich dem Kosovo den Weg in die internationalen Organisationen freimachen. Denn noch ist der junge Staat international nicht durchweg anerkannt. Vučić schien anfänglich alles daran setzen zu wollen, diese Idee zu torpedieren, Kurti hingegen begrüßte sie zwar, reduziert aber mit seiner Taktik, Serbien als prorussischen und weniger kompromissbereiten Akteur zu brandmarken, den Verhandlungsspielraum.

Das ist die Kulisse, vor deren Hintergrund seit Anfang Januar ein recht hektisches diplomatisches Treiben des Westens in der Region zu beobachten ist. Die hohen Vertreter des US-State Departments besuchten Belgrad und Pristina, gefolgt von einem neuen Fünfergespann aus Sonderbeauftragten der EU (Miroslav Lajcak) und der USA (Gabriel Escobar) sowie Vertretern Frankreichs, Deutschlands und Italiens. Das soll den Weg für eine neue, entscheidende Phase der Verhandlungen zwischen Pristina und Belgrad einläuten.

Sehr viel steht dabei auf dem Spiel: Der Westen will dem russischen Einfluss in der Region einen Riegel vorschieben und seine Interessen schützen, durchaus auch im Sicherheitsbereich. Er will den Krisenherd Kosovo und Serbien langfristig befrieden, um nicht alle paar Monate am Rande des Konflikts zu stehen. Eine neue kriegerische Flanke mitten in Europa will und darf man sich jetzt nicht leisten, wo alle Ressourcen für den Krieg in der Ukraine notwendig sind.

Die westlichen Regierungen sind sich bewusst, dass die globalen autoritären Widersacher der liberalen Demokratie wie Russland und China den Westbalkan als eine Region sehen, in der sie einen Kampf gegen EU und USA wagen können. In Brüssel und Washington weiß man daher sehr genau, dass es nun gilt, an einem Strang zu ziehen und die liberale Demokratie – aber auch eigene Interessen – in einer genuin europäischen Region zu verteidigen, wo man in den letzten drei Jahrzehnten so viel investiert hat und auch eine direkte Verantwortung für die Sicherheit von Staaten wie Bosnien-Herzegowina und Kosovo übernommen hat.

Ein Scheitern des Westens auf dem Balkan hätte globale Konsequenzen. Daher darf es dort aus der geopolitischen Perspektive des Westens keinen Platz mehr für Zweideutigkeiten geben: Auf dem Weg zu einer klaren europäischen und demokratischen Perspektive für die Region muss die Konfliktspirale zwischen dem Kosovo und Serbien 2023 endlich beendet werden.

[1] Vgl. Spoljno-političke orijentacije građana Srbije, www.demostat.rs, 26.7.2022.

[2] Misha Savic und Andrea Dudik, War in Ukraine Strains Ties Between Putin and His Old Serb Ally, www.bloomberg.com, 18.1.2023.

[3] Adelheid Wölfl, Regierungschef Kurti: „Putin ist besessen vom Kosovo“, www.derstandard.at, 12.1.2023.

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