
Bild: Gegenlichtaufnahme von Gerhard Schröder, 1.8.2005 (IMAGO / Uta Wagner)
Nur noch zwei Monate bis zur Europawahl und gerade einmal fünf bis zu den so wichtigen drei Landtagswahlen in Ostdeutschland: Der Wahlkampf nähert sich seiner heißen Phase. Insofern kann es nicht wirklich verwundern, dass jetzt auch das für Europa wichtigste Thema dieses Schicksalsjahres[1] zur Wahlkampfmunition geworden ist, nämlich der Krieg in der Ukraine.
Denn eines kommt noch hinzu: Die Koalition ist so zerstritten, die Lage der Ampel so verfahren und mit der Haushaltsplanung für 2025 eine Sollbruchstelle bereits in Sicht, weshalb ein schnelles Ende dieser Bundesregierung mehr als bloß denkbar erscheint. Über allen Debatten schwebt daher die Möglichkeit, dass es binnen kurzer Zeit auch zu einer vorgezogenen Bundestagswahl kommen könnte, was den Wunsch nach parteipolitischer Profilierung zusätzlich erhöht. Damit wird der Nebel des Krieges durch den Nebel des anhebenden Wahlkampfs erheblich verstärkt und noch undurchsichtiger.
In der Ampelkoalition lautet die Devise längst nicht mehr, wenn sie es denn je getan haben sollte, alle für einen bzw. für eines, nämlich ein gemeinsames Ziel, sondern jeder gegen jeden. Bisher fand der Streit allerdings primär zwischen FDP und Grünen statt, während der Kanzler führungsschwach danebenstand. Um dieser Falle zu entkommen, hat Olaf Scholz nun mit dem Krieg als Wahlkampfthema die Flucht nach vorne angetreten. Angriff ist die beste Verteidigung, lautet die Devise des Kanzlers – allerdings nicht primär gegen den russischen Aggressor, sondern vor allem in der innenpolitischen Debatte. Scholz hat erkannt, dass in der Kriegsfrage ein mögliches, hoch populäres Alleinstellungsmerkmal der SPD existiert. Denn in der Haltung gegenüber Russland gibt es längst eine informelle Jamaikakoalition. Speziell in der Taurusfrage sind Grüne und FDP der Union sehr viel näher als der SPD. Und auf der anderen Seite des Parteienspektrums bilden die AfD, das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht und Teile der Linkspartei eine Opposition, die sich als pazifistisch geriert, aber darunter letztlich die Kapitulation der Ukraine versteht, um auf diese Weise nicht nur „Frieden mit Russland“ zu machen, sondern national-egoistisch motiviert vor allem auf schnellstem Wege wieder zu billigem russischen Öl und Gas zu kommen. Dahinter verbirgt sich nicht zuletzt eine anti-universalistische und vor allem antiamerikanische Haltung, die Wagenknecht und Lafontaine mit Höcke und Co. verbindet.
Demgegenüber zielt der Kanzler auf die einzige Position, die noch nicht besetzt ist, aber zugleich enormen Zuspruch verheißt, nämlich die des besonnenen Friedenskanzlers im Zentrum des Parteienspektrums. Ab durch die Mitte heißt die Devise Scholz. Und tatsächlich weiß er damit weite Teile der Bevölkerung hinter sich. „Scholz folgt der Mehrheit, damit sie ihm folgt“[2], lautet seine neue Strategie der führungslosen Führerschaft. Der Kanzler kennt die Ängste der Mehrheit im Lande, und er weiß sie geschickt für sich zu nutzen, um nicht zu sagen zu instrumentalisieren. Nachdem er in der Taurusfrage zuvor diverse sich widersprechende Erklärungen abgegeben hatte, entschied Scholz am Ende, den Marschflugkörper deshalb nicht aus der Hand zu geben, weil diese Waffe ob ihrer großen Reichweite unter deutscher Kontrolle bleiben müsse. Mit dieser Erklärung nahm der Kanzler die Sorge vieler Deutscher vor einer direkten Konfrontation mit Russland auf, verstärkte sie aber zugleich und richtete sie gegen die innenpolitische Konkurrenz. „Die Bürgerinnen und Bürger haben Angst vor Ihnen“, lautete seine Frontalattacke im Bundestag gegen die Union – zur Begeisterung seiner leidgeprüften Partei, die hier wenigstens einen kleinen Hoffnungsschimmer erkennt, bei den kommenden Wahlen vielleicht doch nicht dramatisch abzustürzen. Unterstützt wird Scholz dabei von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der sogar den Koalitionspartnern ob ihrer Kritik am Kanzler Bösartigkeit vorwarf. Dass sich die Attacken nicht nur gegen die Opposition, sondern auch gegen die Konkurrenten in der Koalition richten, zeigt, wie sehr das Agieren wahlkampftaktisch motiviert ist, um so die minimale Chance auf das vom Kanzler versprochene „sozialdemokratische Jahrzehnt“doch noch zu wahren.
Vorbild Gerhard Schröder
Natürlich erinnert all das ungemein an das Verhalten Gerhard Schröders im Bundestagswahljahr 2002. Allerdings zeigt ein genauer Blick auf dieses Beispiel zweierlei: erstens, dass die Instrumentalisierung des Krieges zu Wahlkampfzwecken keineswegs immer grundlos sein muss und, mehr noch, in ihren Folgen durchaus positiv sein kann. Und zweitens, dass die beiden Fälle völlig anders gelagert sind.
Schauen wir kurz zurück: Es war der 5. August 2002, als Gerhard Schröder mit seiner Rede auf dem Marktplatz von Hannover die heiße Wahlkampfphase einleitete. „Selbstbewusstsein ohne Überheblichkeit“ lautete die Formel des Kanzlers, mit der er seine Außenpolitik als Friedenspolitik und „deutschen Weg“ definierte.[3] Obwohl seitens der damals regierenden Bush-Administration ein Einsatz deutscher Soldaten im Irak gar nicht verlangt worden war, erklärte Schröder, die von ihm geführte Bundesregierung stehe für militärische „Abenteuer“ nicht zur Verfügung: „Spielerei mit Krieg und militärischer Intervention – davor kann ich nur warnen. Das ist mit uns nicht zu machen“, so der Kanzler.
Wie heute Scholz stieß damals Schröder mit dieser Positionierung auf breite Zustimmung in seiner Partei, allerdings, anders als heute, auch beim grünen Koalitionspartner. Heftigen Protest erntete der Kanzler dagegen seitens der Union. Dennoch wird man feststellen müssen, dass es sich bei seiner nicht zuletzt wahltaktisch motivierten Absage an den völkerrechtswidrigen Krieg der USA und ihrer Verbündeten im Irak um die vielleicht wichtigste Leistung der rot-grünen Regierung gehandelt hat. Denn speziell die damalige CDU-Partei- und Fraktionsvorsitzende Angela Merkel plädierte für eine Beteiligung Deutschlands und schloss sogar den Einsatz deutscher Truppen nicht aus.[4] Unter einer Kanzlerin Merkel wäre Deutschland also möglicherweise in den Irakkrieg gezogen.
Wichtiger noch als die parteipolitische Konstellation in Deutschland ist freilich ein anderer Unterschied: Bei der Militäroperation der USA, Großbritanniens und der „Koalition der Willigen“ im Irak handelte es sich um den wohl schwerwiegendsten Verstoß gegen die UN-Charta nach 1989. Die Kriegsallianz agierte auf Basis angeblicher, tatsächlich aber fingierter Beweise für die Existenz biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen im Irak – und zudem ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Dieses Vorgehen und die darauffolgende Kriegsführung mit hunderttausenden ziviler Opfer haben die Autorität der Vereinten Nationen, aber auch „des Westens“, bis heute massiv beschädigt.
Damals agierte Schröder zudem dezidiert an der Seite seines konservativen französischen Amtskollegen Jaques Chirac – gegen die USA und jene „Neuen Europäer“ (Robert Kagan), von Polen bis Ungarn, die willig an der Seite Amerikas in den Irakkrieg zogen. Die deutsch-französische Achse funktionierte also, auch auf der Straße: Es kam zu den größten länderübergreifenden Demonstrationen in Europa nach Ende des Kalten Krieges. Ja mehr noch: Selbst im intellektuellen Überbau kam es zu einem erstaunlichen Brückenschlag zwischen den beiden Nachbarn, als mit Jürgen Habermas und Jacques Derrida die Protagonisten der beiden damals dominierenden, aber durchaus konkurrierenden philosophischen Strömungen (Kritische Theorie und Postmoderne) gemeinsam für „Die Wiedergeburt Europas“ im Sinne einer gemeinsamen Außenpolitik Kerneuropas plädierten.[5]
Heute hingegen verstoßen die USA und die westlichen Staaten nicht gegen das Völkerrecht, sondern im Gegenteil: Sie verteidigen die Ukraine auf Basis der UN-Charta gegen den eklatanten Bruch des Völkerrechts durch Russland.[6] Und dennoch ist es gerade in dieser völkerrechtlich so glasklaren Lage zu einem massiven Zerwürfnis zwischen Frankreich und Deutschland gekommen. Nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron, wieder einmal rhetorisch überschießend, sogar europäische Truppen in der Ukraine als denkbar bezeichnet hatte, fuhr ihm der Bundeskanzler frontal in die Parade und erteilte der Entsendung deutscher Bodentruppen eine klare Absage. Scholz‘ sofortige Reaktion erfolgte qua (sogar extra vorgezogener) Videobotschaft, und nicht, wie in einem guten, freundschaftlichen Verhältnis geboten, durch interne Aussprache. „Als deutscher Bundeskanzler werde ich keine Soldaten unserer Bundeswehr in die Ukraine entsenden. Das gilt. Darauf können sich unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen. Und darauf können Sie sich verlassen“, lautete die in der Sache zwar richtige, aber eindeutig innenpolitisch, nämlich wahltaktisch motivierte Kernbotschaft seiner Ansprache.
Polen als Vermittler
Bei alledem beruft sich die SPD darauf, dass es laut einem Bericht der „New York Times“ maßgeblich Olaf Scholz und dessen Chinareise im Herbst 2022 zu verdanken sei,[7] dass eine atomare Eskalation durch Putin verhindert wurde – und deshalb die Besonnenheit und Zurückhaltung des Kanzlers als das Maß aller Dinge zu gelten habe. Allerdings wird dabei unterschlagen, dass sich die Lage seither fundamental verändert hat. Während die Ukraine damals durch Russland besetzte Gebiete zurückerobern konnte und Putin auch innenpolitisch massiv unter Druck stand, drohen der Ukraine heute weitere russische Eroberungen.
Ob der Taurus geliefert wird, ist in dieser Hinsicht nicht entscheidend. Der erhoffte Gamechanger wird er genauso wenig sein wie der Leopard, über den ähnlich lange debattiert wurde. Weit entscheidender ist die fehlende Artilleriemunition. Dass die Ukraine bis heute nicht die zugesagte eine Million Granaten erhalten hat, steht für ein eklatantes Versagen der gesamten EU, wobei ein erheblicher Teil der französischen Seite anzurechnen ist. Emmanuel Macron war lange Zeit offensichtlich weniger an der Versorgung der Ukraine mit Granaten interessiert als daran, dass diese in Europa – und natürlich am besten in Frankreich – produziert werden, obwohl die erforderlichen Kapazitäten dort gar nicht existieren. Und es ist ein Menetekel für das vereinigte Europa, dass es der Einzelinitiative des tschechischen Präsidenten bedurfte, um die fehlenden Granaten jetzt endlich auf dem Weltmarkt aufzutreiben. Noch ist jedoch keineswegs ausgemacht, dass dies – zeitlich wie vom Umfang her – reichen wird, um die kleiner werdende Kampfkraft der ausgelaugten und ob ihrer Unterlegenheit zunehmend demoralisierten ukrainischen Truppen wieder aufzubauen. Das von Mützenich angepeilte „Einfrieren“ des Krieges macht daher die Rechnung ohne den Wirt, sprich: ohne Wladimir Putin. Denn dieser hat bisher in keiner Weise echtes Interesse an einem Waffenstillstand oder gar Friedensschluss signalisiert. Und das aus einem einfachen Grund: Ganz offensichtlich zielt Putin auf den 5. November und die entscheidende Wahl in den Vereinigten Staaten. Sollte Donald Trump gewinnen, würde dessen bereits angekündigter Rückzug aus der Ukraineunterstützung Putins Kriegs- und Verhandlungsoptionen massiv verbessern. Selbst wenn der Kreml sich jetzt – wider Erwarten und rein hypothetisch – auf ein Einfrieren des Krieges einlassen wollte, dann sicher nicht, um seine ursprünglichen Eroberungspläne an den Nagel zu hängen, sondern allein, um die von ihm ausgemachten Feinde in Sicherheit zu wiegen.
Putins zukünftiges Verhalten wird in jedem Fall maßgeblich vom Ausgang des 5. Novembers abhängen. Daher kommt es für die EU vor allem darauf an, die Zeit bis dahin entschlossen zu nutzen, um die Ukraine zu stärken und selbst verteidigungsfähig zu werden.
Eine entscheidende Rolle könnte dabei Polen zukommen, als wichtigem Mittler zwischen Süd-West- und Nord-Ost-Europa im so lange brachliegenden Weimarer Dreieck. Während der Kaczynski-Jahre war dieses faktisch ausgefallen. Mit Donald Tusk ist Polen nun auf die europäische Bühne zurückgekehrt. Damit gehört die nationalistisch-revanchistische Politik Warschaus, die am Ende sowohl antideutsch (wegen der NS-Geschichte) als auch antiukrainisch (wegen des Streits um die ukrainischen Getreideexporte) grundiert war, zumindest vorerst der Vergangenheit an. Tusk wirbt stattdessen entschieden für mehr Militärhilfe für die Ukraine.
Hier liegt das fast einzig Positive der neuen Situation im Vergleich zu der von 2002: Während der Irakkrieg zu einer fatalen Spaltung zwischen „altem“ und „neuem Europa“ führte, hat der Konflikt mit Russland durchaus das Potenzial, Europa zu einen (wenn man vom notorischen Putin-Anhänger Viktor Orbán absieht). Geschuldet ist dies nicht zuletzt dem Realitätssinn der Osteuropäer, die eines ob ihrer eigenen Geschichte weit besser verstanden haben: Die Freiheit West-Europas verdankte sich nach 1945 primär dem US-amerikanischen Schutzschirm. Umso mehr kommt es mit Blick auf den 5. November und einen möglichen Wahlsieg Trumps nun für Europa darauf an, endlich eigenständig verteidigungsfähig zu werden. Denn nur so wird es eines Tages tatsächlich zu einem dauerhaften Einfrieren des Konflikts im Sinne einer nichtkriegerischen Koexistenz mit Russland kommen können – ob unter Wladimir Putin oder einem vermutlich nicht minder autokratischen Nachfolger.
[1] Albrecht von Lucke, Schicksalsjahr 2024. Putin, Hamas, Trump und die Logik der Zerstörung, in: „Blätter“, 1/2024, S. 35-42.
[2] Rena Lehmann, Scholz‘ Nein könnte ein Fehler sein, in: „Osnabrücker Zeitung“, 14.3.2024.
[3] Birgit Laube, Der Faktor Amerika im Wahlkampf 2002, in: Nikolaus Jackob (Hg.), Fallstudien zur Wahlkampfkommunikation 1912-2005, Wiesbaden 2007, S. 235-253, hier: S. 235 f.
[4] CDU/CSU: Merkel verteidigt Irak-Krieg, faz.net, 27.3.2003.
[5] Jürgen Habermas und Jacques Derrida, Die Wiedergeburt Europas. Plädoyer für eine gemeinsame Außenpolitik – zunächst in Kerneuropa, in: „Blätter“, 7/2003, S. 877-881.
[6] Daher steht der Ukraine, aber auch anderen Staaten laut Artikel 51 UN-Charta „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ zu.
[7] David Sanger, Biden’s Armageddon Moment: When Nuclear Detonation Seemed Possible in Ukraine, in: „New York Times”, 9.3.2024.