Der ukrainische Überlebenskampf und die Verantwortung Europas

Bild: Der russische Präsident Wladimir Putin mit dem Generalstabschef der Streitkräfte Waleri Gerassimow (links) und Verteidigungsminister Sergej Schoigu (rechts) im Kontrollzentrum für staatliche Verteidigung in Moskau, 19.12.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Mikhail Klimentyev / Kremlin Pool)
Zwei Jahre sind vergangen, seit russische Truppen am frühen Morgen des 24. Februar 2022 ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine begannen und damit eine tiefe Zäsur in der jüngeren Geschichte Europas markierten. Das überfallene Land leidet seither unter gezielten Attacken auf die Zivilbevölkerung und einer extrem brutalen Kriegsführung der Invasoren. UN-Ermittler haben im vergangenen Herbst einen ganzen Katalog an Kriegsverbrechen vorgelegt, die Russland in der Ukraine begangen hat: „vorsätzliche Tötungen, Folter, Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt und die Deportation von Kindern in die Russische Föderation“.[1]
Auch dagegen richtet sich der anhaltende Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer. Für sie ist dieser Krieg in vielerlei Hinsicht existenziell: Bei einer Niederlage drohen das Ende politischer Selbstbestimmung in einem demokratischen Staat, die Unterdrückung der ukrainischen Sprache und Kultur sowie individuelle Rechtlosigkeit gegenüber einer rücksichtslosen Besatzungsmacht.
Ein Ende dieses Leids und dieser Bedrohung ist auch zu Beginn des dritten Kriegsjahres nicht in Sicht. Denn die russische Führung zeigt sich unbeirrbar. Auf seiner traditionellen Pressekonferenz zum Jahresende bekräftigte Kremlchef Wladimir Putin einmal mehr seine Kriegsziele: „Entnazifizierung, Demilitarisierung und ein neutraler Status für die Ukraine“,[2] sprich: der Sturz der Regierung um Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Degradierung des Nachbarlandes zum abhängigen Vasallenstaat. Verteidigungsminister Sergej Schoigu verkündete in seiner Neujahrsbotschaft gar, die Stärke der Armee sei es, den „Feind unter allen Umständen vernichten“ zu können.[3] Das sagte er kurz nach den bis dahin heftigsten Luftangriffen seit Februar 2022, bei denen Russland am 29. Dezember 2023 rund 120 Dörfer und Städte in der ganzen Ukraine attackierte. Die von Schoigus Untergebenen abgefeuerten Raketen trafen Wohnhäuser, ein Einkaufszentrum und eine Entbindungsstation und töteten dabei Dutzende Menschen.
Schoigus martialische Aussage reflektiert jedoch auch die dramatisch veränderte Lage: War Russland nach dem Scheitern seiner ursprünglich geplanten schnellen Eroberung und den nachfolgenden ukrainischen Rückeroberungen rund um Kiew, Charkiw und Cherson im Herbst 2022 lange in der Defensive, so droht sich das Blatt nun wieder zu wenden. Bei ihrer Gegenoffensive im Sommer 2023 ist es der Ukraine nicht gelungen, weitere größere Gebiete zu befreien. Zu Jahresbeginn 2024 vermeldete Kiew dann sogar Munitionsknappheit, während die US-Republikaner im Kongress über Wochen die weitere militärische Unterstützung blockierten. Russland dagegen hat auf Kriegswirtschaft umgestellt: Ein gutes Drittel der Staatsausgaben fließt nach offiziellen Angaben künftig in den militärisch-industriellen Komplex des Landes. Erstmals seit dem Frühjahr 2022 droht damit im schlimmsten Fall sogar eine Niederlage der Ukraine.
Das Problem dahinter ist weniger militärischer als politischer Natur: Bei den Verbündeten Kiews zeigt sich zunehmend Kriegsmüdigkeit, Russland hingegen richtet sich auf einen langen Kampf ein. In die Hände spielt Putin dabei die US-Präsidentschaftswahl im November. Sollte Donald Trump tatsächlich wieder ins Weiße Haus einziehen, verlöre die Ukraine mit Amtsinhaber Joe Biden ihren wichtigsten Unterstützer.
Bis zum Januar 2025, wenn Trump erneut ins Amt eingeführt werden könnte, wird Russland diesen Krieg also in jedem Fall weiterführen, diesen Zeitrahmen hat Schoigu bereits im vergangenen Herbst in einer Rede offen abgesteckt.[4] Daher sind Forderungen, Kiew möge verhandeln, derzeit schlicht sinnlos. Der Kreml hat einstweilen kein Interesse an Gesprächen mit der Ukraine, sondern allenfalls an ihrer Kapitulation.[5]
Vorsicht und Verteidigung
Bei aller Bedrängnis gilt aber: Eine Niederlage der Ukraine ist alles andere als unvermeidbar. Entscheidend wird dabei das Verhalten der übrigen europäischen Regierungen in den kommenden Wochen und Monaten sein. Denn dass die USA ab 2025 als Unterstützer wegzufallen drohen und die Biden-Regierung schon zuvor stark vom Wahlkampf beansprucht sein wird, ist nicht nur ein Problem für die Ukraine, sondern auch für Europa: Ein russischer Sieg in der Ukraine würde eine europäische Friedensordnung auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus unmöglich machen.
Angesichts dessen besteht das Minimalziel, auf das sich alle EU-Staaten (wohl mit Ausnahme Ungarns), aber auch Länder wie Großbritannien und Norwegen bislang stets haben einigen können, darin, eine Niederlage der Ukraine zu verhindern. Ob umgekehrt eine russische Niederlage möglich und wünschenswert sei, ist in Europa hingegen nach wie vor umstritten.
Vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz betont stets, das überfallene Land solle so lange standhalten können, bis der Kreml die Vergeblichkeit seiner Eroberungspläne einsieht und verhandlungsbereit wird. Scholz vermeidet dabei geflissentlich, von einem möglichen ukrainischen Sieg über Russland zu sprechen, und hat mehrfach, wie auch der französische Präsident Emmanuel Macron, seine Gesprächsbereitschaft mit Putin betont. Hinter dieser vorsichtigen Haltung stehen wohl nicht zuletzt Befürchtungen vor einer Ausweitung des Krieges. In der Tat habe die nur „graduell“ gesteigerte militärische Unterstützung der Ukraine auf russischer Seite die Anreize zur Eskalation gesenkt, analysierten Sicherheitsexperten der Rand Corporation im vergangenen Sommer. Kein Schritt des Westens sei aus Moskauer Sicht dramatisch genug gewesen, um zu seiner Verhinderung einen Krieg mit der Nato zu riskieren.[6]
Allerdings zahlen die Menschen in der Ukraine einen schrecklichen Preis für diese Strategie: Ihr Militär bekommt gerade genug westliche Waffen, um nicht unterzugehen, aber zu wenig, um das Blatt entscheidend zu seinen Gunsten wenden zu können – und so das Sterben ukrainischer Zivilisten und Militärs schneller zu beenden.[7] Zudem besteht immer die Gefahr, dass der Westen einmal nicht schnell genug auf eine starke russische Offensive reagieren kann und die Ukraine den Ansturm dann nicht abzuwehren vermag. Die jüngste Blockade der Ukrainehilfen in Washington ist ein warnendes Beispiel.
Da zudem die von Scholz offenbar erhoffte Einsicht Putins in die Notwendigkeit einer ernsthaften Verhandlungslösung nicht erkennbar ist, braucht dieses vorsichtige Vorgehen außerdem einen langen Atem, in der Ukraine wie in der EU. Kiew konzentriert sich derzeit notgedrungen überwiegend auf die Verteidigung und hat den Bau von Befestigungen entlang der Frontlinie begonnen.
Ein Sieg der Ukraine?
Andere europäische Staaten setzen hingegen auf einen Sieg der Ukraine. So schreibt das estnische Verteidigungsministerium in einem Diskussionspapier vom Dezember 2023, der Krieg könne „innerhalb der nächsten drei Jahre oder weniger gewonnen werden“.[8] Kurz gesagt, soll der Kreml in eine Lage gebracht werden, die für ihn derart aussichtslos ist, dass er den Krieg aufgeben muss. Dazu müsse der Westen in Wort und Tat glaubhaft signalisieren, dass er die Ukraine auch längerfristig unterstützen werde, um so den ökonomischen Druck auf Russland entscheidend zu erhöhen, da Moskau seine dramatisch gesteigerten Militärausgaben nicht unbegrenzt stemmen könne. Verschärfte Sanktionen würden ein Übriges dazu beitragen.[9] Militärisch gelte es das kommende Jahr zu nutzen, um die Ausbildung der ukrainischen Armee zu verbessern und sie massiv mit Artilleriemunition, Drohnen und anderen Waffen zu versorgen. Ziel müsse es sein, die russischen Verluste auf ihrem derzeitigen hohen Niveau zu halten, damit Putin eine Generalmobilmachung ausrufen und so Unruhe im Land riskieren müsse.
Letzteres verweist auf den Grund, warum auch russische Oppositionelle eine Niederlage ihres Landes für notwendig erachten.[10] Erst eine Erschütterung des Putin-Regimes durch eine (drohende) Niederlage, so ihre Überzeugung, würde jene Veränderungen im Land anstoßen, die aus Russland wieder einen friedensfähigen Akteur machen könnten.
Das Risiko einer russischen Überreaktion
Zugleich liegt darin ein Risiko, vor dem Politiker wie Scholz, aber auch Biden, erkennbar zurückschrecken – und das in gleich zweifacher Hinsicht:Erstens könnte ein in die Ecke gedrängter Putin den Krieg weiter eskalieren. Schon die teils spektakulären Attacken der Ukraine gegen militärische Einrichtungen auf der von Russland seit 2014 besetzten Krim dürften in manchen westlichen Hauptstädten mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden sein: Zwar sind sie unbestreitbar der größte Erfolg der ukrainischen Sommeroffensive, weil Kiew Russland die Kontrolle über das westliche Schwarze Meer entreißen und dadurch auch ohne Zustimmung Moskaus wieder Weizen exportieren konnte.[11] Aber zugleich zeigte sich dabei, dass der Kreml durchaus zur Aufgabe der Krim, und damit der in seinen Augen strategisch wichtigsten und zudem identitätspolitisch aufgeladenen Eroberung, gezwungen werden könnte – was im Westen oft als massives Eskalationsrisiko gilt. Das ist wohl der Hintergrund des deutschen Taurus-Streits; denn mit diesen Marschflugkörpern könnte die Ukraine die Brücke von Kertsch zerstören und damit die Verbindung zwischen der Krim und dem russischen Festland kappen.
Der innereuropäische Dissens in dieser Frage ist Ausdruck einer grundverschiedenen Gefahrenwahrnehmung, vor allem zwischen West- und Mittelosteuropa: Wer in Deutschland würde sich von einer Niederlage der Ukraine direkt bedroht fühlen, selbst wenn er sie aufrichtig beklagt? Eine russische Überreaktion hingegen wirkt da schon gefährlicher. Ganz anders wird im Baltikum gerechnet: Fällt Kiew, kommt der Krieg eher früher als später auch zu uns. Angesichts dessen ergibt es Sinn, trotz aller Unwägbarkeiten gleich auf den Sieg der Ukraine zu setzen.
Jedoch ist es, zweitens, nicht ausgemacht, dass die im Falle einer russischen Niederlage zu erwartenden gesellschaftlichen Verwerfungen auch das von liberalen Dissidenten erhoffte Resultat bringen. Zumindest hat der damalige Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin mit seinem Marsch auf Moskau vom vergangenen Sommer noch eine andere Möglichkeit aufgezeigt: Bürgerkrieg und Staatszerfall.[12] Wenn die russische Zentralmacht schon von einem einzelnen Söldnerführer derart überrumpelt werden konnte, dann könnten sich Separatisten und Gewaltunternehmer jedweder Couleur ebenfalls ermutigt fühlen. Das gilt umso mehr, wenn nach einem verlorenen Krieg Tausende frustrierte Veteranen in ihrem Zorn auf die politische Führung empfänglich für Aufrufe zu Abspaltung oder Rebellion sind.[13]
Zugespitzt lautet die Alternative: Besser Putin als das Chaos – oder: besser Chaos als Putin? Wo die einen glauben, wenigstens ein Mindestmaß an Stabilität und Berechenbarkeit in Russland ließe sich nur bewahren, indem man eine Lösung mit der aktuellen Moskauer Führung sucht, hoffen die anderen gerade auf Unruhe als nötigen Zwischenschritt hin zu stabilen und vor allem friedlicheren Verhältnissen.
Die Gefahr weiterer Angriffe
Dieser strategische Dissens führt zwar immer wieder zu Spannungen, hat Europa aber bislang nicht entzweit. Vielmehr streifte die EU am 15. Dezember 2023 ihre langjährige Erweiterungsmüdigkeit ab und vollzog – trotz eines bemerkenswert aggressiven Blockadeversuchs der nationalistischen ungarischen Regierung im Vorfeld – einen für Kiew historischen Schritt, indem sie Beitrittsgespräche mit der Ukraine beschloss. Die Westbindung, die eine Mehrheit im Land seit Jahren erstrebt und die Russlands Invasion verhindern sollte, wurde damit symbolisch bekräftigt.
Gefahr für die Einheit der EU droht derzeit eher, sollte die kaum verhohlen pro-russische Haltung Ungarns Nachahmer finden. Die neue slowakische Regierung unter dem Nationalpopulisten Robert Fico bewegt sich bereits in diese Richtung. Kurz nach ihrem Amtsantritt im Oktober 2023 stoppten mehrere westliche Geheimdienste die Weitergabe von Informationen über den Ukrainekrieg an Bratislava – zu groß ist das Misstrauen, dieses Wissen könnte in falsche Hände geraten.[14]
Angesichts der Blockadeversuche durch nationalistische Kräfte – in den USA wie in der EU – haben auch die Vertreter einer vorsichtigen Strategie erkannt, dass Europa der Ukraine mehr Waffen liefern muss, wie gerade Scholz Anfang Januar mit ungewohnter Deutlichkeit erklärte.[15] Denn Russland hat seine Rüstungsindustrie bereits massiv hochgefahren. Produzierte das Land zu Beginn der Invasion noch etwa 40 Langstreckenraketen im Monat, sind es nun mehr als hundert. Die Produktion von Artilleriemunition hat sich beinahe verdoppelt; dazu kommen über eine Million Geschosse aus Nordkorea.[16] Die EU hingegen wird ihre Zusage, Kiew bis März eine Million Artilleriegeschosse zu liefern, wohl nicht halten können. Auch die ukrainische Luftabwehr leidet unter knapper werdender Munition – was den Schutz von kritischer Infrastruktur und Zivilisten massiv gefährdet. Bis die EU bei der Rüstungsproduktion mit Russland gleichziehen könne, sagte jüngst Binnenmarktkommissar Thierry Breton, werde es anderthalb bis zwei Jahre dauern.[17] Auch wenn Breton und mehrere EU-Staaten, darunter nicht zuletzt Frankreich, im Januar weitere Zusagen gemacht haben, gilt doch: Europa ist schlecht vorbereitet auf einen möglichen Wegfall der US-Unterstützung nach einem Sieg Trumps und hat nur noch wenige Monate Zeit, sich auf den Ernstfall einzustellen.
Der Westen als Feind
Ein Sieg Russlands – oder selbst ein Ergebnis, das Putin als Sieg verkaufen könnte – wäre jedoch für die Ukraine eine Katastrophe und für das restliche Europa eine große Gefahr. Russland ging es nie allein um das Nachbarland. Für den Kreml, schreibt der Politikwissenschaftler Andrej Kolesnikow, hat sich der Krieg längst „zu einem zivilisatorischen Kampf zwischen den Kräften des Guten, die von Russland verkörpert werden, und den Kräften des Bösen, die zuweilen als ‚satanisch‘ bezeichnet und von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten verkörpert werden“, entwickelt.[18] In aller Schärfe bekräftigte Putin das jüngst erneut bei einem Besuch in einem Militärkrankenhaus. Über die westlichen Staaten sagte er dort: „Der Punkt ist nicht, dass sie unseren Feinden helfen. Sie sind der Feind.“[19]
Die Europäische Union steht dabei Putins neoimperialer Vorstellung im Weg, den Kontinent erneut in Einflusszonen aufzuteilen, bei denen die Großmächte über das Schicksal kleinerer Länder entscheiden – allen voran das wiedererstarkte russische Imperium. Setzt sich Russland in der Ukraine durch, könnte es weiter nach Westen auszugreifen versuchen. Die ultranationalistischen Kräfte in Moskau würden sich in ihrer Einschätzung bestätigt sehen, dass sich ein Krieg trotz enormer wirtschaftlicher und menschlicher Kosten letztlich lohnt und der Westen schwach ist. Sollte die Ukraine fallen, drohen damit weitere russische Angriffe auf Länder, die früher zur Sowjetunion oder dem Warschauer Pakt gehörten, etwa auf Nato- und EU-Mitglieder im Baltikum.
Das mag irrational klingen: Würde Moskau wirklich einen Konflikt mit der Nato riskieren, indem es eines ihrer baltischen Mitglieder überfällt? Man möchte es sich nicht ausmalen, aber zum einen war schon die Invasion der Ukraine aus westlicher Sicht irrational. Politisch, wirtschaftlich und auch militärisch ist dieser Krieg für Russland eigentlich derart kontraproduktiv, dass viele Analytiker und Regierungsvertreter in Europa einen solchen Schritt im Vorfeld lange nicht für möglich gehalten haben.[20] Und dennoch beschritt Putin diesen Weg. Europa tut also gut daran, sich nicht in falscher Sicherheit zu wiegen.
Zum anderen könnte Putin schlicht versuchen, die Schwächen des von ihm als dekadent verachteten Westens offenzulegen: Funktionierende Abschreckung setzt die glaubwürdige Ankündigung voraus, auf einen Angriff entsprechend zu antworten. Sollte die Ukraine aber aufgrund mangelnder westlicher Unterstützung eine Niederlage erleiden, dürfte Russland versucht sein, den Zusammenhalt des Westens weiter auf die Probe zu stellen.[21] Das gilt umso mehr bei einer Rückkehr Trumps ins Weiße Haus. Schließlich hat dieser schon in seiner Zeit als Präsident deutlich gemacht, dass ihn die amerikanische Beistandspflicht gegenüber Nato-Partnern nicht kümmert, berichtete jüngst EU-Kommissar Breton. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos habe Trump 2020 hinter verschlossenen Türen gesagt: „Sie müssen begreifen: Wenn Europa militärisch angegriffen wird, werden wir Ihnen niemals zu Hilfe [...] kommen.“[22] Nun ist Trump zwar für erratische Äußerungen bekannt, dennoch dürften diese und andere seiner bekannten Polemiken gegenüber Nato und EU in Moskau Zweifel an Washingtons Bündnistreue nähren.
Die Friedensordnung bewahren
So kommen auf Europa heute Fragen zu, die vor dem 24. Februar 2022 noch undenkbar schienen – und die in ihren Konsequenzen erschreckend sind: Würde Deutschland beispielsweise wirklich bis zum Äußersten gehen, um im Falle einer russischen Invasion die Freiheit Litauens zu verteidigen? Eine schreckliche Wahl: Lautete die Antwort aus Berlin und anderen Hauptstädten Nein, wäre die Beistandspflicht nach Artikel 5 des Nato-Vertrages im Grunde Makulatur – damit blieben weitere mittelosteuropäische Länder quasi auf sich allein gestellt. Lautete die Antwort Ja und griffen die in Litauen stationierten Bundeswehrsoldaten gemäß ihrer Bündnispflicht ein, befände sich Deutschland mit Russland im Krieg.
Für Europa steht derzeit viel auf dem Spiel. Gelingt es dem Kreml, die Friedensordnung auf dem Kontinent weiter zu unterminieren, drohen unruhige Jahre und weitere Gewaltkonflikte. Die Ukraine verteidigt daher weit mehr als nur ihre eigene Existenz. „Wenn ihr uns Geld gebt oder wenn ihr uns Waffen gebt, unterstützt ihr euch selbst“, so jüngst zugespitzt Selenskyj: „Ihr rettet eure Kinder, nicht unsere.“[23] Kiew militärisch zu unterstützen heißt damit auch, einen möglichen großen Krieg in Europa zu verhindern.
Der ukrainische Widerstand als Zeitgewinn für Europa
Mit ihrem Widerstand hat die Ukraine dem übrigen Europa einstweilen wertvolle Zeit verschafft. Schon jetzt hat Russland bei seiner Invasion derart viele Soldaten – US-Berechnungen kommen auf 300 000 Verwundete oder Tote – und Panzer verloren, dass es zeitgleich keinen weiteren Krieg führen könnte. Doch bereits sechs bis zehn Jahre nach Ende der heftigsten Kampfhandlungen in der Ukraine könnte der Kreml wieder angriffsfähig sein, so eine jüngst erschienene Studie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, und dabei von der Erfahrung seiner Truppen aus dem Ukrainekrieg profitieren.[24] Dieses Schreckensszenario dürfte Verteidigungsminister Boris Pistorius vor Augen gestanden haben, als er jüngst anmahnte, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden. „Die Formel lautet“, so Pistorius, „Krieg führen zu können, um keinen Krieg führen zu müssen.“[25]
Wenig spricht jedenfalls dafür, dass sich die Beziehungen zwischen der EU und Russland in den nächsten Jahren entspannen werden. Dafür ist die Verfeindung zu stark und der europäische Vertrauensverlust in die Moskauer Führung zu massiv. Sollte der Ukrainekrieg zudem – was derzeit eher wahrscheinlich ist – nicht mit einem klaren Sieg für eine Seite enden, sondern mit einem Einfrieren des Konflikts und einem De-facto-Grenzverlauf entlang der Frontlinie, so müsste ein Wiederaufflammen jederzeit befürchtet werden. Glaubhafte Abschreckung bleibt daher für die EU auf absehbare Zeit eine bittere Notwendigkeit – zumindest solange der Frieden in Europa nicht mit, sondern nur gegen Russland gesichert werden kann.
[1] Report of the Independent International Commission of Inquiry on Ukraine, ohchr.org, 19.10.2023.
[2] Results of the Year with Vladimir Putin, en.kremlin.ru, 14.12.2023.
[3] Russia’s Shoigu Greets Military on New Year, Says Army Demonstrates ‚Invincibility’, sputnikglobe.com, 31.12.2023.
[4] Chris York, EXPLAINED: Sergei Shoigu’s Incredible ‚War Until 2025’ Speech, kyivpost.com, 27.9.2023.
[5] Putins angeblich geäußerte Bereitschaft, den Konflikt einzufrieren, wirkt angesichts dieser Ausgangslage wie ein taktisches Manöver, um die eigenen Truppen neu zu formieren. Vgl. Putin Quietly Signaling Openness to Ukraine Ceasefire Talks – NYT, themoscowtimes.com, 23.12.2023.
[6] Bryan Frederick, Mark Cozad und Alexandra Stark, Understanding the Risk of Escalation in the War in Ukraine, RAND Corporation, Santa Monica 2023.
[7] Die Ukraine veröffentlicht keine Zahlen zu getöteten oder verwundeten Soldaten. Schätzungen gehen von mehreren zehntausend Gefallenen aus. Dazu kommen laut UN-Angaben mehr als 10 000 getötete ukrainische Zivilisten. Vgl. Jonathan Landay, U.S. intelligence assesses Ukraine war has cost Russia 315,000 casualties -source, reuters.com, 13.12.2023; Emma Farge, Civilian death toll in Ukraine tops 10,000 - U.N. Human Rights Office, reuters.com, 21.11.2023.
[8] Republic of Estonia/Ministry of Defence, Setting Transatlantic Defence up for Success: A Military Strategy for Ukraine’s Victory and Russia’s Defeat, Tallinn 2023, S. 3.
[9] Die westliche Hoffnung, mit Sanktionen rasch spürbaren ökonomischen Druck zu erzeugen, hat sich nicht erfüllt. Langfristig schwächen sie aber die russische Wirtschaft, vor allem aufgrund gesunkener Öl- und Gaseinnahmen und der zunehmenden Knappheit von wichtigen Importgütern wie Reifen und Flugzeugteilen. Das Einfrieren russischer Vermögenswerte durch den Westen hat Moskau zudem gezwungen, auf Notfallreserven zurückzugreifen. Vgl. Leon Aron, The Sanctions Against Russia Are Starting to Work, theatlantic.com, 7.12.2023.
[10] Irina Scherbakowa, Ist Frieden mit Putin möglich? Eine skeptische Binnensicht, in: „Blätter“, 1/2024, S. 79-88.
[11] Roman Romaniuk, Sea drones, Elon Musk, and high-precision missiles: How Ukraine dominates in the Black Sea, pravda.com.ua, 1.1.2024.
[12] Wladislaw Subok, Russlands neue Zeit der Wirren. Prigoschins Putschversuch und Putins Schwäche, in: „Blätter“, 8/2023, S. 77-81.
[13] Solche Szenarien wurden schon vor Prigoschins Aufstand diskutiert. Vgl. etwa: Matthew Karnitschnig, Libya with nukes: Is the West ready for Putin to lose?, politico.eu, 23.2.2023.
[14] Tomáš Madlenák, How a compromised Fico ally could lead Slovak intelligence – into isolation, vsquare.org, 22.1.2024.
[15] Daniel Brössler und Georg Ismar, Scholz fordert mehr Unterstützung für Kiew, in: „Süddeutsche Zeitung“, 10.1.2024.
[16]Justin Bronk, Europe Must Urgently Prepare to Deter Russia Without Large-Scale US Support, rusi.org, 7.12.2023.
[17] Zit. nach: Eddy Wax und Laura Kayali, Breton aims for ‚huge’ €100B defense fund, politico.eu, 9.1.2024.
[18] Andrej Kolesnikow, The Plot Against Russia. How Putin revived Stalinist anti-Americanism to justify a botched war, foreignaffairs.com, 25.5.2023.
[19] Zit. nach: Plain speaking, in: „The Economist”, 6.1.2024.
[20] Matthias Dembinski, Putins unmöglicher Krieg: Überlegungen zum Nicht-Rationalen in der internationalen Politik, PRIF Working Paper No. 60, Frankfurt a. M., 2023.
[21] Nataliya Bugayova, The High Price of Losing Ukraine: Part 2 — The Military Threat and Beyond, understandingwar.org, 22.12.2023.
[22] Eddy Wax, Trump vowed he’d ‚never’ help Europe if it’s attacked, top EU-official says, politico.eu, 10.1.2024.
[23] Zit. nach: Plain speaking, in: „The Economist”, 6.1.2024.
[24] Christian Mölling und Torben Schütz, Den nächsten Krieg verhindern. Deutschland und die Nato stehen im Wettlauf mit der Zeit, DGAP Policy Brief Nr. 32, November 2023.
[25] Vgl. Pistorius: „Man muss glaubhaft abschrecken“, zdf.de, 22.1.2024.