
Bild: US-Wahl: Wir gegen Ich, Wisconsin, 18.10.2024 (IMAGO / Uwe Kraft)
Selten stand bei einer Wahl so viel auf dem Spiel wie am 5. November. Diese US-Präsidentschaftswahl wird wichtige Weichen stellen – auch für den Rest der Welt. Kehrt Donald Trumps isolationistischer und erratischer Kurs in der Außenpolitik zurück? Verabschieden sich die USA wieder komplett vom Kampf gegen die Klimakrise? Wird in den USA die Demokratie weiter ausgehöhlt und der Rechtsstaat zur Farce? Oder kann Kamala Harris diese Entwicklungen doch noch stoppen?
Große Fragen, die oft in seltsamem Kontrast standen zu dem Spektakel, das den US-Wahlkampf auch ausmacht. Begünstigt von dem Wahlsystem[1], geht es dabei viel um die Persönlichkeit der Kandidierenden und um deren Performance. Aber Harris stellte in ihren Auftritten auch deshalb nicht die großen Fragen in den Vordergrund, weil sie eine strategische Entscheidung gefällt hatte: Aufgrund der von Trump vorangetriebenen politischen Polarisierung kam es ihr darauf an, gerade unentschlossene Menschen zu erreichen, die sich sonst wenig mit Politik beschäftigen. Und die lassen sich kaum von einem für sie mehr oder weniger abstrakten Kampf für die Demokratie überzeugen. Kurz: Die Demokratie konnte Harris nicht retten, indem sie über die Rettung der Demokratie sprach. Stattdessen musste sie vor allem eine glaubwürdige Interessenvertreterin für diejenigen verkörpern, die nicht ohnehin schon auf ein Lager festgelegt waren.
Harris versuchte dabei, als empathische Politikerin aufzutreten, die an Lösungen für die Alltagssorgen interessiert ist, statt Horrorszenarien an die Wand zu malen. Ein Gegenbild zu Trump. Wer von diesem eine Mäßigung erwartet hatte, um die politische Mitte zu gewinnen, sah sich getäuscht: Wie gewohnt schreckte er weder vor abenteuerlichen Versprechen noch vor Lügen zurück. Seine Lügen vergiften die Debatten, können aber auch unmittelbar bedrohlich sein. Das zeigte seine Behauptung, aus Haiti eingewanderte Menschen würden in Springfield Hunde und Katzen stehlen und essen. Kurz nachdem er das Gerücht verbreitet hatte, gingen über 30 Bombendrohungen bei Schulen und anderen Einrichtungen in der Stadt ein.[2]
Kaum ein Problem, das Trump nicht mit „illegalen“ Migrant:innen in Verbindung gebracht hätte. So behauptete er nach den verheerenden Hurrikans Helene und Milton, die Nothilfe käme nicht in den betroffenen Gebieten an, weil Vizepräsidentin Harris die Mittel für irreguläre Migrant:innen verbraucht hätte – selbst republikanische Gouverneure widersprachen. Doch all das scheint Trump kaum zu schaden: Seine Basis liebt dessen ressentimentgeladene Lügengeschichten, andere Wähler:innen nehmen sie nicht mehr ernst: Das ist halt Trump.
Aber wer ist Harris? Für viele lange eine Unbekannte: Zwar löste ihre späte Nominierung unter den Demokrat:innen eine euphorische Stimmung aus, aber selbst nach ihrem gefeierten Sieg beim TV-Duell gegen Trump sagte noch ein Viertel der potenziellen Wähler:innen, sie wüssten zu wenig über die Kandidatin. Und so blieb sie bis zum Schluss auch auf Vorstellungstour, verband ihr politisches Profil mit ihrer Lebensgeschichte. Dazu trat sie besonders in Medienformaten auf, die sich sonst nicht mit Parteipolitik beschäftigen, wie in Talkshows von Sportlegenden oder in bei jungen Frauen populären Podcasts. Traditionelle Medien beklagten sich zwar, dass sie dabei zu kurz kämen, für Harris war das aber eine folgerichtige Strategie, um unentschlossene Menschen zu erreichen.
Und es gelang ihr tatsächlich in erstaunlichem Tempo, ihr ursprünglich negatives Image zu verändern: Während noch im Juli in Umfragen nur 36 Prozent der Befragten angaben, Harris in einem positiven Licht zu sehen, konnte sie diesen Wert bis Anfang Oktober auf 47 Prozent steigern und rief damit erstmals mehr Zustimmung als Ablehnung hervor.
Der wichtigste Grund, warum diese Beliebtheitswerte noch keinen Wahlsieg garantieren: Die bald vier Jahre Biden/Harris-Regierung waren für die meisten Menschen in den USA eine wirtschaftlich schwierige Zeit. Ob das Schuld der Regierung oder eher äußerer Umstände wie der Coronapandemie und Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine war, dürfte gerade den wenigen unentschiedenen Wähler:innen, auf die es am 5. November ankommt, egal sein.[3]
Die Preissteigerung ist für die meisten Menschen in den USA das drängendste Problem. Daran ändern abstrakte Wirtschaftszahlen wie die zurückgehende Inflation und die geringe Arbeitslosenrate wenig: Inflationsbereinigt sank das verfügbare Einkommen während der Biden-Jahre. Das war in der Vergangenheit im US-amerikanischen Zweiparteiensystem ein verlässlicher Indikator für die Abwahl einer Regierung.[4]
Wenn Harris dennoch eine Chance hat, liegt das also vor allem daran, dass Trump bei einer Mehrheit des Wahlvolks unbeliebt ist. Umgekehrt blieb der Wahlkampf auch deshalb ein Kopf-an-Kopf-Rennen, weil ihm trotzdem mehr ökonomische Kompetenz zugesprochen wird. Harris reagierte darauf, indem sie die wirtschaftliche Lage nicht schönredete, aber zugleich Trump als ökonomisch inkompetent hinstellte: Sie machte sich über ihn lustig, als verwöhntes Kind, das mit den Millionen seines Vaters ins Geschäftsleben starten konnte und dann sechsmal Konkurs anmelden musste.
Allerdings wirkte Harris gerade zu Beginn ihre kurzen Kampagne unsouverän, wenn sie ihre eigenen wirtschaftspolitischen Vorschläge erklärte, die erst im Laufe der Zeit Gestalt annahmen. Bei einem anderen, die Wahl mitentscheidenden Thema zweifelt dagegen niemand an ihrer Glaubwürdigkeit: Abtreibung. Schon vor ihrer Nominierung gab sie Frauen eine Stimme, die unter den restriktiven Gesetzen in republikanischen Bundesstaaten leiden. Inzwischen sind mehrere Fälle von Frauen bekannt, die starben, weil ihnen Ärzt:innen eine rechtzeitige Behandlung verwehrt hatten – mit Verweis auf die in einigen republikanischen Bundesstaaten erlassenen strengen Abtreibungsverbote.[5]
Schon bei den Zwischenwahlen 2022 hat Harris dazu beigetragen, „reproduktive Freiheit“ in ein Gewinnerthema für die Demokrat:innen zu verwandeln. Nicht nur, aber vor allem bei Frauen. Frauen sind auch sonst die Gruppe, bei der Harris besonders punktet und die Trump besonders abschreckt. Die USA folgen damit einem internationalen Trend: Männer, gerade junge, sind anfälliger für autoritäre politische Angebote. Daher sprach das Wahlkampfteam von Trump gezielt diese Gruppe über Influencer und Posts auf Social Media an – mit Erfolg auch bei schwarzen Männern, die früher in großer Mehrheit demokratisch gewählt haben.
Auch um nicht noch mehr – insbesondere junge schwarze – Männer an Trump zu verlieren, setzte Harris nicht auf Identitätspolitik: Anders als Hillary Clinton vor acht Jahren betonte sie nicht, dass sie die erste Frau wäre, die ins Weiße Haus einzöge. Stattdessen vermied sie polarisierende Themen und präsentierte sich als Politikerin, die ideologische Gräben überbrückt: Im Unterschied zu Joe Biden möchte sie Republikaner ins Kabinett berufen und ein überparteiliches Beratergremium installieren.
Ich oder wir
Entsprechend rückte die von Trump als Marxistin verunglimpfte Harris nicht, wie von manchen erhofft, nach links, um die letzten entscheidenden, vielleicht nur Zehntausenden Stimmen zu gewinnen. Eher im Gegenteil: So sprach sie sich, anders als vor vier Jahren, für Fracking aus, einem entscheidenden Wirtschaftszweig im wichtigen Swing State Pennsylvania. Und sie versprach schärfere Grenzkontrollen und eine Bekämpfung der irregulären Immigration, wobei sie vor allem ihre Erfahrung als Staatsanwältin herausstellte. Ihren Ruf, hart gegen Kriminalität vorzugehen, der ihr im Vorwahlkampf 2020 bei der demokratischen Basis noch geschadet hatte, konnte sie dabei jetzt nutzen.
Hat sie sich also von Trump – ähnlich wie die deutsche Politik von der AfD – nach rechts ziehen lassen? Auch wenn sich diese Parallele spontan aufdrängen mag: Die Unterschiede sind deutlich. Während hierzulande der Kanzler Abschiebungen in großem Stil versprach, will Harris zwar Drogen- und Schleuserbanden bekämpfen, in ihren Statements lässt sie sich aber nicht auf die Rhetorik von Migration als Ursache von Kriminalität ein.
Auch in anderer Beziehung bediente sie sich eines konservativen Klassikers: Sie setzte auf Patriotismus, der ohnehin in den USA, anders als in Deutschland, selbstverständlicher Teil der politischen Kultur ist. Sie möchte den Begriff geradezu für ihre Partei zurückerobern.[6] Die U-S-A-Rufe auf dem demokratischen Nominierungsparteitag waren Ausdruck dessen. Kosmopolitismus klingt anders, aber Harris‘ Patriotismus ist trotzdem weit entfernt vom völkischen Nationalismus, den die AfD vertritt, oder dem weißen Ethnonationalismus, der große Teile von Trumps Basis antreibt. Das ist der Vorteil eines unzweifelhaften Einwanderungslandes. Harris konnte in ihren Reden „das Privileg und den Stolz, Amerikaner zu sein“ feiern, „unabhängig von Partei, Ethnie, Geschlecht oder der Sprache, die die Großeltern gesprochen haben“.
Inklusion statt Exklusion war auch sonst ein wichtiger Subtext in Harris‘ Auftritten. Während Trump verspricht, er werde wieder die beste Wirtschaft der Welt schaffen, er werde der Beschützer der Frauen sein und er allein werde im Gespräch mit Putin den Krieg in der Ukraine beenden, sind die Reden der demokratischen Kandidatin Angebote, mitzumachen.
Und sie mobilisierte damit ihre Basis: Allein im wichtigen Bundesstaat Pennsylvania arbeiteten 60 000 Freiwillige für die Harris/Walz-Kampagne, Trumps Wahlkampfteam spricht nur von 27 000 Freiwilligen in den gesamten USA. Und so steht auch das groundgame – also das Engagement der Freiwilligen im Haustür- und Straßenwahlkampf – symbolisch für den unterschiedlichen Politikansatz. Trump verspricht Rettung durch seine Person, Harris durch Kooperation. Erlöser gegen Teamplayer. Harris sammelte allein am Tag nach der TV-Debatte 600 000 Einzelspenden im Gesamtwert von 47 Millionen Dollar – Trump hingegen hat Elon Musk, der nicht nur spendet, sondern ihn auch auf seiner Plattform X in Szene setzt, Verschwörungsmythen über Harris verbreitet und mittels seiner Unterstützungsorganisation – dem America PAC[7] – versucht, mit Geldprämien Stimmen für Trump zu mobilisieren.
Harris‘ breite Koalition
Schon als Harris 2020 Präsidentschaftskandidatin werden wollte, versuchte sie sich als Brückenbauerin und positionierte sich zwischen Parteiestablishment und der Parteilinken um Bernie Sanders. Damals ohne Erfolg, ihr Mangel an politischer Vision galt als die Schwäche ihrer Kampagne. Nun versuchte sie, den Spieß umzudrehen und ihren Pragmatismus in eine Stärke zu verwandeln und so das breite Spektrum anzusprechen, das sie für einen Wahlsieg braucht. Und so kann ihre Kampagne auch als Angebot für eine Depolarisierung verstanden werden. Ein vernünftiger Schritt in einem waffenstarrenden Land, in dem ein Kandidat verkündet, wenn er verliere, dann könne das nur Betrug sein. Doch obwohl Anhänger Trumps schon am 6. Januar 2021 bewiesen haben, dass sie seine Machtübernahme notfalls mit Gewalt durchsetzen wollen, ist offen, ob sich genug Wähler:innen von diesem Angebot überzeugen lassen.
Dabei hatte Harris im Wahlkampf viele gute Zeug:innen dafür, dass sie als Kandidatin einer besonders breiten Koalition antrat: Bei kaum einem ihrer Auftritte fehlt einer oder eine der „Republicans for Harris“. Und im September erklärten über 100 Mitarbeiter:innen aus Regierungen von Ronald Reagan, den Bushs bis zu Mitgliedern der ersten Trump-Administration in einem offenen Brief, Trump sei „untauglich für das Präsidentenamt“. Der Brief ruft in Erinnerung, warum die USA und die Welt vor einer einschneidenden Entscheidung stehen: „Als Präsident hat er das tägliche Chaos in der Regierung gefördert, […] seine persönlichen Interessen über die amerikanischen Interessen gestellt und unsere Werte, die Demokratie und das Gründungsdokument dieses Landes verraten.“
Ein Dämpfer für den Autoritarismus?
Starke Worte. Doch diese Stimmen werden nur wenige traditionelle Wähler:innen der Republikaner auf Harris‘ Seite ziehen. Zu sehr hat Trump die Republikanische Partei unter seine Kontrolle gebracht. Diese Polarisierung, bei der beide Seiten Informationen vor allem aus ihren Filterblasen beziehen, ist neben dem Wahlsystem auch der wesentliche Grund, warum mit einem Milliardenaufwand bis zum letzten Tag um die wenigen noch zu bewegenden Stimmen gekämpft wird.
Harris vorzuwerfen, dass sie in diesem Kampf nicht auf ein klar linkes Programm gesetzt hat, ist bei dieser Ausgangslage realitätsfremd. Sollte sie dieses knappe Rennen gewinnen, dann garantiert das zwar nicht die Reparatur des deformierten politischen Systems in den USA oder den Abbau sozialer Ungleichheit. Aber wenn es Harris und ihrem Team mit einem Wahlerfolg tatsächlich gelingt, dem gefährlichen Polarisierungsunternehmer Trump den Wind aus den Segeln zu nehmen, dann hätten sie schon viel für die Demokratie in den USA erreicht – und dem weltweiten Autoritarismus einen Dämpfer verpasst.
[1] Vgl. den Text von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in dieser Ausgabe.
[2] Kris Maher et. al, How the Trump Campaign Ran With Rumors About Pet-Eating Migrants, wsj.com, 18.9.2024.
[3] Vgl. Jonas Becker, Kamala Harris: Mit links zur Präsidentin?, in: „Blätter“, 9/2024, S. 5-8.
[4] Nate Silver, This was Trump’s election to lose. And he just might, substack.com, 13.9.2024.
[5] Mary Ziegler, The Deaths of Two Mothers in Georgia Show Ending Roe Was Never About „Life“, slate.com, 19.9.2024.
[6] Alex Gangitano, Democrats try to take patriotism back from GOP, thehill.com, 24.8.2024.
[7] Sogenannte Super PACs dürfen im Gegensatz zu den eigentlichen Wahlkampagnen unbegrenzt Großspenden annehmen. Beide Kandidierende nutzen diese Organisationen, bei Trump spielen sie eine größere Rolle.