
Bild: Oppositionsführer Donald Tusk in Warschau, 15.10.2023 (IMAGO / Jacek Szydlowski / Forum)
Ein Aufatmen ging durch das demokratische Europa: Der nationalkonservative Sonderweg Polens wurde bei der Parlamentswahl am 15. Oktober erst einmal gestoppt. Zwar zieht die bisherige Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) unter Parteichef Jarosław Kaczyński und dem bisherigen Premierminister Mateusz Morawiecki erneut mit der größten Fraktion ins Parlament ein, sie verlor jedoch im Vergleich zu 2019 über acht Prozentpunkte. Mit ihren gut 35 Prozent kann sie keine Regierung bilden, denn auch ihr potenzieller Koalitionspartner, die Rechtsaußenpartei Konföderation, erreichte nur rund sieben Prozent.
Trotzdem verzögert jetzt Präsident Andrzej Duda den Machtwechsel: Er beugte sich dem nationalkonservativen Lager und vergab den Auftrag zur Regierungsbildung am 6. November wieder an Morawiecki. Eine Regierung unter Führung von Donald Tusk und seiner liberal-konservativen Bürgerkoalition (KO) wird er damit letztlich nicht verhindern können: Die KO erreichte knapp 31 Prozent und kann mit dem Dritten Weg (rund 14 Prozent) und der Neuen Linken (deutlich über acht Prozent) eine Regierung bilden.
Der Dritte Weg ist eine Allianz aus Polen 2050 unter dem politisch unerfahrenen katholischen Journalisten Szymon Hołownia und der pragmatischen Bauernpartei PSL; ein Zweckbündnis, um nicht einzeln jeweils an der Fünfprozenthürde zu scheitern. In der Neuen Linken wiederum finden sich jüngere Politiker, die sich an westeuropäischen Parteien wie etwa der spanischen Podemos orientieren, sowie ehemalige kommunistische Kader aus der Zeit vor 1989.
Was sind die Gründe für den Umschwung in Polen? Eine Ursache erscheint banal: Die PiS hatte sich verbraucht und nichts Neues zu bieten. Wieder versprach sie mehr Sozialleistungen, aber das war der Aufguss von vor vier Jahren.
Neu und altbekannt zugleich war dagegen der Kandidat der Opposition: Donald Tusk, der nach seiner Zeit als EU-Ratspräsident auf die polnische Bühne zurückgekehrt ist. Mit ihm forderte endlich eine charismatische Figur die PiS heraus, nachdem das liberale Lager 2015 und 2019 jeweils mit schwachen Spitzenleuten angetreten war. Schon einmal, 2007, konnte Tusk die PiS von der Macht verdrängen, eine traumatische Niederlage für das nationalkonservative Lager. Umso vehementer wollte dieses eine Neuauflage verhindern. Dabei setzte die PiS auf persönliche und diffamierende Angriffe auf den 66jährigen Danziger, auch und gerade in den staatlichen Medien. Das Kalkül ging nicht auf. Die Schmutzkampagne erreichte und radikalisierte vor allem die eingefleischten PiS-Anhänger. Andere hingegen schreckte sie ab. Tusk versicherte zudem, die bisherigen Sozialleistungen der PiS nicht abschaffen zu wollen.
Als unverbrauchte Seiteneinsteiger präsentierten sich die Kandidaten des Dritten Wegs, der eigentlich aus zwei gegensätzlichen Parteien besteht. Außerdem gelang es ihrem Spitzenkandidaten Hołownia, sich als Ausweg aus der politischen Polarisierung darzustellen. Inhaltlich steht der 47jährige für christliche Werte, aber auch für Klima- und Umweltschutz. Vor allem aber plädierte er mit seinem Slogan „Schluss mit der Streiterei, nach vorn“ für eine Verständigung unter den Polen. Insgesamt war es wohl der Verdruss mit der Regierung, der viele Leute an die Wahlurnen trieb und zur Niederlage der PiS führte: Die Wahlbeteiligung lag mit über 74 Prozent um über 13 Prozentpunkte höher als vor vier Jahren. Auch die Aussicht, Milliarden an EU-Geldern zu verlieren, weil Polen die Auflagen der EU-Kommission zur Rechtsstaatlichkeit nicht erfüllte, hat sicherlich zum Sieg der Opposition beigetragen.
Und so eint denn auch die drei angehenden Koalitionspartner der Plan, die Rechtsstaatlichkeit in Polen wieder herzustellen. In acht Jahren Regierung hat die PiS unter der Regie von Kaczyński die Justiz weitgehend ihrer Unabhängigkeit beraubt, die staatlichen Medien auf Linie gebracht und auch andere öffentliche Einrichtungen mit regierungsloyalem Personal besetzt.
Mit der Rechtsstaatlichkeit stand nicht nur Polens Demokratie auf dem Spiel, sondern auch die Zusammenarbeit in der EU. Nicht zuletzt ging es auch um viel Geld: 23,9 Mrd. Euro Zuschuss und 11,5 Mrd. Darlehen aus Brüssel bleiben gesperrt, bis Warschau rechtsstaatliche Vorgaben erfüllt. Die Frist zur Auszahlung der Gelder läuft zum Jahresende ab. Ebenfalls blockiert sind seit einem Jahr 75 Mrd. Euro aus dem Kohäsionsfonds, da sich die polnische Regierung nicht an die EU-Grundrechtecharta halten will. „Auch ungewöhnliche Mittel“ will Tusk anwenden, um das Geld zu retten, „welches Polen zusteht“. Präzisiert hat er dieses Vorhaben jedoch noch nicht.
Fest steht: Ein besonderer Stein des Anstoßes für die EU-Kommission war das Vorgehen gegen Justizvertreter, die nicht so agierten, wie es die PIS-Regierung sich wünschte. Dazu wurde zuerst 2018 eine sogenannte Disziplinarkammer dem Obersten Gericht angegliedert, die neben Richtern auch Staatsanwälte und Rechtsanwälte maßregelte – bis hin zum Berufsverbot.
Die Abschaffung dieser Kammer forderte zwar schon 2020 der Europäische Gerichtshof. Daraufhin wurde die Kammer aufgelöst, jedoch nur – ein typischer Kniff des promovierten Juristen Kaczyński –, um durch ein Gremium mit anderem Namen („Kammer für berufliche Verantwortung“), aber fast gleicher Funktion ersetzt zu werden.
Diese Kammer sollte dem Obersten Verwaltungsgericht unterstellt werden. Diese Entscheidung hat Staatspräsident Duda im Februar an das Verfassungsgericht zur Beurteilung weitergegeben. Doch dieses rührt sich seit Monaten nicht. Das Verfassungsgericht einzuschalten, war eine Verzögerungstaktik Dudas, der Schlüsselfigur im Ringen um Polens Justizsystem. Wie sein Ziehvater Kaczyński ist der 51-Jährige promovierter Jurist und wird noch bis Sommer 2025 im Amt bleiben.
Wie den Rechtsstaat wiederherstellen?
Auch wenn die neue Regierung endlich im Amt ist, wird Duda ihr das Leben extrem schwermachen können. So kann er Gesetzesnovellen zur Überprüfung an das Verfassungsgericht weiterleiten. Dieses Gericht ist derzeit mit PiS-loyalen Richtern besetzt und kann bis zur Urteilsverkündung Jahre verstreichen lassen. Zudem hat der Präsident die Möglichkeit, Gesetzesänderungen mit einem Veto zu blockieren. Der künftigen Regierung unter Tusk fehlt die nötige Mehrheit im Sejm, um so ein Veto aufzuheben.
Marcin Matczak, Rechtsprofessor der Universität Warschau, hegt allerdings die Hoffnung, dass Duda in Zukunft pragmatischer handeln wird. Im Gespräch mit dem Autor sagte er: „Er hat in einigen Fällen gezeigt, dass er nicht allein der PiS folgt, auch in Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Er braucht die PiS nicht mehr, in zwei Jahren ist seine Amtszeit zu Ende. Die neuen Machthaber können auch ihm schaden, etwa indem sie das Budget des Präsidialamts verkleinern.“
Matczak gehört zu jenen Juristen, die sich im Rahmen der liberalen „Stefan Batory Stiftung“ seit 2017 mit einer Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit nach einem Regierungswechsel befassen. Unter den Experten finden sich „Tauben“ wie „Falken“. Letztere verlangen eine rasche, harte Lösung. So könnte der neugewählte Sejm gleich bei der ersten Sitzung das Verfassungsgericht für illegal erklären und alle Richter absetzen. Rechtsprofessor Wojciech Sadurski beispielsweise argumentiert, aufgrund der Fehlbesetzung des Verfassungsgerichts und aufgrund von dessen Fehlurteilen habe es keine Existenzberechtigung mehr. Durch eine solche Delegitimierung könne man auch die Urteile und Beschlüsse dieser Institution revidieren, so die PiS-Reformen abwickeln und sich schneller vom nationalkonservativen Personal trennen.
Eine sehr verständliche Ungeduld. Matczak aber zählt zu den Tauben, obwohl der 47jährige eine sehr kritische Einstellung zum Verfassungsgericht in seiner derzeitigen Zusammensetzung hat. Doch die meisten Richterinnen und Richter, so argumentiert er, wurden rechtmäßig berufen. „Wenn jetzt die politische Opposition, die acht Jahre lang von Rechtsstaatlichkeit sprach, dieses Gericht einfach abberuft, dann schafft sie einen Präzedenzfall – nach dem Motto: the winner takes it all. Dann kommt die nächste Partei und macht das Gleiche und wird die Gerichte wie einen Staatsbesitz betrachten und Juristen, welche von der vorigen Regierung einberufen wurden, rauswerfen und seine eigenen berufen. Das wäre das Ende des Rechtsstaats.“
Das Dilemma, in dem die neue Parlamentsmehrheit steckt, weist über Polen hinaus. Auch für andere Staaten stellt sich die Frage: Wie kann der Schaden, den autoritäre Regierungen der Demokratie zugefügt haben, nach deren Abgang wieder behoben werden? Matczak glaubt, dass dazu schrittweise vorgegangen werden muss. Sofort sollte die Maßregelung der polnischen Juristen gestoppt werden, dazu braucht es keine neuen Gesetze. Auch könnten unrechtmäßig eingesetzte Richter entfernt werden. Entsprechende Gerichtsurteile liegen bereits vor, sie wurden nur von der nationalkonservativen Regierung ignoriert.
Auch auf anderen Gebieten wird sich die neue Regierung mit dem politischen Erbe von acht Jahren PiS-Herrschaft auseinandersetzen müssen. So erwartet ein großer Teil der Öffentlichkeit, dass die Verschärfung des Abtreibungsrechts zurückgenommen wird. Wie das geschehen soll, da ist sich die neue Koalition aber nicht einig: Die Vereinigte Linke will das Abtreibungsrecht nach dem Vorbild westeuropäischer Länder liberalisieren, was aber mit den anderen beiden, traditioneller ausgerichteten Parteien nicht zu machen sein wird.
Der Hass sitzt tief
Hier deutet sich ein Konflikt an, auf den die PiS spekuliert. Denn diese hat ihren Machtanspruch noch längst nicht aufgegeben. Schließlich droht einigen der rechten Politiker mehr als der Verlust ihrer Ämter: Tusk hat im Wahlkampf versprochen, einen Teil der Regierung vor Gericht zu stellen. Sowohl Duda als auch Beata Szydlo, die von 2015 bis 2017 die Regierung führte, drohen Prozesse vor dem Staatsgerichtshof, dem Präsidenten aber erst nach dem Ende seiner Amtszeit im Sommer 2025. Mit Sicherheit wird der derzeitige Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro angeklagt, neben Kaczyński der zweite Architekt der umstrittenen Justizreform.
Dies befürwortet auch Marcin Matczak: „Er hat mehrfach seine Befugnisse überschritten und nach meiner Ansicht gegen geltendes Recht verstoßen. Die Verfolgung von unabhängigen Richtern und Staatsanwälten gehörte dazu. Er wollte Leute vernichten, brechen. Es gab viele ungerechte Disziplinarstrafen.“
Auch bei den öffentlich-rechtlichen Medien wird die neue Regierung eingreifen. Die PiS hatte im Winter 2015/2016 begonnen, TVP, Polskie Radio sowie die Nachrichtenagentur PAP mit Gesetzesänderungen und Entlassungen unter ihre Kontrolle zu bringen. Besonders aggressiv agierte seitdem der Nachrichtenkanal tvp info als Propagandawaffe gegen jeglichen wirklichen oder vermeintlichen Gegner – Deutschland etwa wurde als dunkle Macht dargestellt, die Polen die nationale Souveränität rauben wolle.
Zumindest beim Fernsehen will die neue Parlamentsmehrheit die gesamte Belegschaft auswechseln, indem sie die Institution auflöst und rechtlich neu gründet. So kann sie den Einfluss von zwei Medienräten aushebeln, die mit PiS-Getreuen besetzt sind.
Auch hier steht eine ähnliche Entscheidung wie beim Umbau des Justizsystems an: Soll ein öffentlich-rechtliches Medium geschaffen werden, das überparteilich und seriös berichtet? Oder wird mit dem neuen Sender eine Art Rachefeldzug gegen die PiS gestartet werden? Die Entscheidung ist nicht selbstverständlich, da TVP auch in der Regierungszeit von Tusk und seiner Nachfolgerin Ewa Kopacz (2007 bis 2015) tendenziös für die Regierenden berichtete – wenn auch in geringerem Ausmaß als unter der PiS.
Jenseits der Gesetzesnovellen und Anordnungen wird es eine langfristige Aufgabe sein, die extreme Polarisierung zu überwinden. Denn auch das war ein großes Versprechen der Bürgerkoalition: die Versöhnung der polnischen Gesellschaft. Um das zu symbolisieren, traten ihre Politikerinnen und Politiker im Wahlkampf vornehmlich im weißen Hemd mit einem aufgeklebten Herzen auf.
Doch der Hass zwischen den politischen Lagern sitzt tief. Nicht nur zwischen den Gallionsfiguren Tusk und Kaczyński, sondern auch zwischen vielen Parteimitgliedern auf regionaler und lokaler Ebene. Selbst zahlreiche Freundschaften unter Privatleuten gingen nach dem ersten Sieg der PiS 2015 kaputt, und die politische Polarisierung spaltet heute viele Familien. Das wird sich so schnell nicht ändern. Schon allein deshalb, weil Kaczyński weiterhin seine Partei führt und schon einen neuen Propagandasender mit der heutigen Belegschaft von TVP plant, wird die innerpolnische Verständigung wohl schwierig werden.
Vorsichtige Annäherung an Berlin
Leichter könnte da die deutsch-polnische Verständigung fallen. In Berlin war die Erleichterung über das Wahlergebnis entsprechend groß. Mit dem proeuropäischen Tusk könnte das zuletzt eingeschlafene „Weimarer Dreieck“ erneut belebt werden. In diesem Rahmen treffen sich seit 1991 Berlin, Paris und Warschau zum Austausch. Gemeinsam könnten sie etwa die weitere Anbindung der Ukraine an die Europäische Union vorantreiben.
Allerdings wird es die künftige Regierung vermeiden, sich zu sehr dem westlichen Nachbarn anzunähern. Bezeichnenderweise fehlte das Thema Deutschland im Wahlprogramm der KO. Vielleicht auch deshalb, weil Tusk durch die PiS permanent als Handlanger Berlins verteufelt wurde. Zudem schließen er und Teile seiner Partei Entschädigungsforderungen an Deutschland wegen der Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs nicht aus. Schon die alte Regierung erhob im September 2022 Reparationsforderung in Höhe von 1,3 Bio. Euro. Auch das zeigt: So groß die Erleichterung nach dem Wahlsieg der Opposition auch war, Polen und Europa stehen langwierige Reparaturarbeiten bevor.